Ein Raunen ging diesen Spätsommer durch die Medien. Bilder von einer anscheinend-relevant-weil-berühmten-Person namens Peaches Geldof (23) sorgten für Aufregung. Die frischgebackene Mutter fährt telefonierend den Kinderwagen mit ihrem winzigen Baby in ein Schlagloch. Das Kind fällt raus. Frau Geldof telefoniert weiter und versucht nebenbei das quengelnde Balg mit einer Hand zurück ins Körbchen zu bugsieren. Nun ja, Papa hatte den Fokus auf Afrika gelegt, das Töchterlein anscheinend auf ihren Gesprächspartner. Immerhin nörgelte sie kurz darauf per Twitter über den Zustand der Gehwege.
Schlimm die Promis? Allerdings. Dass für ein It-Girl mit dem IQ von drei Metern Feldweg ihr iPhone wichtiger ist als ihr eigenes Kind, das ist ein Skandal. Schlimm, diese Sternchen, diese Scientologen, diese Stars! Doch ein Blick in die Parks, Trams, Starbucks und Freibäder in unserer Umgebung holt uns auf den Boden der Realität zurück. Dort sitzen Mamis und Papis mit ihren Sprösslingen und widmen ihre Aufmerksamkeit stundenlang, gerne nebenbei noch obsessiv rauchend, ihren Displays. Bewundern sie Kinderfotos? Der Blick über die Schultern zeigt meist ein F-Logo in irgendwelchen Timelines, SMS-Dialoge epischen Ausmasses oder wütende Vögel im Anflug auf hämisch grinsende Schweine. Derweil spielen Laura und Kevin mit Kippen, Glasscherben oder testen die nähere und weitere Umgebung auf ihre Stressresistenz. Würden sich die lieben Eltern überhaupt noch an die Entwicklungsschritte ihrer Sprösslinge erinnern, wenn sie nicht laufend Fotos ihrer Kinder auf Facebook gepostet oder im Instagram verewigt hätten?
Die Beobachtung zeigt: iADHS ist kein exklusives Problem von Promis. Auch Otto Normal-Natel-Nutzer leiden an der Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Als (Selbst-)Therapie kann die folgende wütende Auseinandersetzung mit Smartphone-Mythen dienen:
Mythos 1: Die grosse Freiheit im Business
Das Versprechen: Am Angelteich sitzend, auf dem Segelboot weilend oder entlang eines wunderschönen Bergkamms wandernd die wichtigsten Geschäftsangelegenheiten erledigen, anstatt im Büro den Tag absitzen zu müssen. Entspannt zurücklehnen und nur im Notfall erreichbar sein.
Die Realität: Weder im Kino, beim Essen, an einem Konzert, im Freibad oder sonstwo bekommt man das Büro aus dem Kopf. Immer nachsehen, ob nicht doch eine Nachricht reingekommen ist. Elektrohalsband statt Wireless!
Mythos 2: Soziale Integration
Die Behauptung: Heute ist es ohne Smartphone und Soziale Medien kaum mehr möglich, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen.
Denkste! Soziale Integration äussert sich bei realen Kontakten zu realen Menschen. Gemeinsam Kaffee trinken, Einkaufen gehen, spazieren, wandern, streiten und knutschen. Wer jeden Abend 50 Dinge liken muss, hat keinen Raum und keine Energie mehr, um wirklich an etwas Gefallen zu finden oder Interesse zu zeigen. Von wem haben Sie zuletzt ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen? Von Ihrem Augenarzt?
Mythos 3: Besser organisiert sein
Dreitausendmal pro Sekunde synchronisiert das Natel zwei private und einen geschäftlichen Kalender, derweil schlägt Google Now vierzig Wege ohne Stau zum nächsten Termin vor. Und trotzdem – Hand aufs Herz: Kennen Sie noch viele pünktliche Leute? Alle Smartphones werden ab Werk mit Entschuldigungs-SMS-Funktion „Komme später“ ausgeliefert – eine Generation an Menschen anscheinend auch.
Mythos 4: Ich kann auch ohne
Auf dem weissen Tischtuch liegt silbernes Besteck. Eine geschmackvolle Dekoration umgibt den Kerzenständer und in der Ecke spielen ein Klavier und eine Querflöte Smooth Jazz. Ein sich noch immer liebendes Paar setzt sich hin, um im Strudel des Alltags ein paar Stunden zu zweit alleine zu sein. Beim Studium der Weinkarte fällt ihm auf, dass auf allen anderen Tischen jede anwesende Person ein Handy auf dem Tisch liegen hat. Jede! Akkurat hingelegt neben Gabel und Serviette. Kopfschütteln und herablassendes Bedauern machen sich breit. Und dann, als seine Gattin kurz den Tisch verlässt, ertappt sich der Schreibende dabei, selbst im Sakko nach dem Teil zu graben, um seine Mails zu checken… Soviel zu meinem Grund für die Wut.