Die Menschen wollen belogen werden. Den meisten ist das nur nicht bewusst. Denn die Wahrheit ist nicht nur hässlich, sie tut auch weh. Wer gut mit seinen Mitmenschen auskommen will, der lügt Studien zufolge etwa 200 Mal am Tag. Die Lüge ist eine der grössten Errungenschaften unserer Zivilisation. Ein Mensch ist zivilisiert, wenn er auf die Frage «Wie geht’s?» kurz und bündig «Danke, gut.» antwortet, statt darüber zu klagen, dass er die letzte Nacht kein Auge zubekommen hat, wegen dieser unglaublichen Blähungen … Muss an der Minestrone gelegen haben, irgendwas war da wohl drin und überhaupt diese Verdauungsgeschichte …. Sie verstehen. Anderes Beispiel: Sie sind eingeladen und der Gastgeber steht schon seit Stunden in der Küche. Er kredenzt einen Gang nach dem anderen. Doch das Risotto ist eindeutig verkocht. Was antworten Sie auf seine Frage, ob es schmeckt? Eben.
Die Lüge an sich ist keine schlechte Sache. Im Grunde genommen ist die Lüge die beste Erfindung der Menschheit. Ohne sie gäbe es nur Mord und Totschlag. Das gilt allerdings nur für die Lüge, die unsere Mitmenschen schützt. Die Lüge, die wir benutzen, um das reibungslose Miteinander nicht zu gefährden.
Und dann gibt es Werbung. Sie hat einen üblen Ruf, obwohl sie nicht annähernd so oft lügt wie jeder einzelne von uns. Dafür sorgt schon der Werberat. Der rügt Werbung, die offensichtlich falsch, irreführend oder diskriminierend ist. Das alles darf sich der Werber privat leisten, beruflich wird es eng. Aber er hat andere Mittel zur Verfügung. Er kann beschönigen, verschweigen, optimieren und retuschieren. Und dabei schöpft er aus dem Vollen. Die Werbung im Jahr 2019 vermittelt auch nach der vermeintlich revolutionären Dove-Kampagne (die Models hatten zwar Normalmasse, bis zum Umfallen retuschiert waren sie trotzdem) ein eher unrealistisches Schönheitsideal. Aber mal ehrlich: Wären ihnen Models mit Falten und Cellulite lieber?
Was ist ethisch vertretbar und was nicht? Klar: Diskriminierende Werbung – auf welche Art auch immer – gehört verboten. Doch was ist mit der leicht bekleideten Frau, die lasziv in die Kamera schaut und an einer Zigarette zieht? Oder dem Model für eine Modemarke, die einfach zu dünn ist, um noch gesund zu sein? Vielleicht kommt man da mit dem Begriff «Relevanz» weiter. Warum muss die Frau auf der Zigarettenwerbung leicht bekleidet sein? Weil das Plakat sonst keine Aufmerksamkeit bekommen würde. Und warum würde es keine Aufmerksamkeit bekommen? Weil hinter der Kampagne keinerlei Idee steckt. Hätte sich der Werber Gedanken gemacht und einen originellen Aufhänger mit spannenden Motiv-Headline-Varianten gefunden, hätte er auf die billigste und älteste aller Maschen verzichten können.