Irgendwo im Kanton Zürich, in einem Treppenhaus, in der Waschküche, im Trockenraum. Darüber 70 Wohnungen, der Waschplan hängt an der Wand, es riecht nach Weichspüler und trocknender Wäsche. Eine ungewöhnliche Umgebung für ein Interview mit einer Leitenden Staatsanwältin und einem Abteilungsleiter der Polizei? Ja und nein, denn genau hierhin wollen die beiden unter anderem mit ihrer neuen Präventionskampagne «Stopp Gewalt gegen Frauen» gelangen. Was sie dazu bewegt, welche Überlegungen dahinterstecken und was sie erreichen wollen, erklären die beiden erfahrenen Fachleute im Gespräch.
Claudia Wiederkehr, Reinhard Brunner, wir stehen mit Polizei und Staatsanwaltschaft in einer Waschküche. Eine Tatortbesichtigung?
Claudia Wiederkehr: In diesem Fall eher nicht. Reden wir über Gewalt gegen Frauen, wären die klassischen Tatorte wohl eher irgendwo in den Stockwerken weiter oben zu suchen.
Und trotzdem wollen Sie im übertragenen Sinn mit Ihrer neuen Kampagne auch hierhin. In die Waschküche, das Treppenhaus …
Reinhard Brunner: Im übertragenen Sinn ja. Denn mit der Kampagne richten wir uns mit einem Schwerpunkt an eine neue Zielgruppe in der Prävention: die Beobachtenden. Und genau hier wird beobachtet. Man trifft die Nachbarin beim Waschen und bemerkt blaue Flecken im Gesicht. Hört sie weinen. Im Treppenhaus hört man vielleicht immer mal wieder Schreie aus einer Wohnung.
Mögliche Zeichen von häuslicher Gewalt. Was passiert dann?
Wiederkehr: Leider noch viel zu wenig. Wegschauen und weghören ist leider immer noch recht verbreitet. Selbst dann, wenn sich die Anzeichen von Gewalt bei den Nachbarn verdichten.
Brunner: Erfährt die Polizei von Gewalt oder familiären Streitereien, rückt sie aus. Dies war 2019 im ganzen Kanton Zürich in etwa 5’200 Fällen notwendig. Vor Ort prüfen wir, ob Gewalt ausgeübt wurde und ob Schutzmassnahmen notwendig sind. Liegen strafbare Handlungen vor, wird Anzeige erstattet und in schwereren Fällen die beschuldigte Person verhaftet und der Staatsanwaltschaft zugeführt. Trotz dieser vielen Meldungen gehen wir von einer grossen Dunkelziffer aus, die uns gar nicht erreicht. Das wollen wir mit der Kampagne ändern.
Wieso melden sich nicht mehr Beobachter von Gewalt bei der Polizei?
Brunner: Da gibt es verschiedene Gründe. Von Scham, Unbehagen oder Zweifel an der Richtigkeit eines Anrufs bei der Polizei bis hin zu Angst, allenfalls in nachfolgende Verfahren miteinbezogen zu werden. Gewalt lässt sich jedoch nur verhindern, wenn Anzeichen dafür gemeldet werden. Dazu rufen wir auf. Lieber eine Meldung zu viel als eine zu wenig. Es kostet nichts, auch wenn sich am Schluss herausstellt, dass polizeiliches Handeln nicht notwendig gewesen wäre.
Die Kantonspolizei hatte vor ein paar Jahren das gleiche Problem bei den Dämmerungseinbrüchen.
Brunner: Da war die Situation ähnlich. Durch mehrere Kampagnen konnten wir erreichen, dass uns Nachbarn lieber einmal zu viel als einmal zu wenig anrufen, wenn sie etwas Verdächtiges im Quartier beobachten. Verdacht – Anruf. Das ist das richtige Verhalten. Und wegschauen ist auch ermöglichen, dass etwas passiert, das sollte allen bewusst sein!
Also wird der gleiche Ansatz in der neuen Kampagne wiederverwendet?
Wiederkehr: Hier ist die Situation zwar ähnlich, jedoch viel komplexer. Wir wollen auch hier die Beobachter ansprechen und ermutigen, uns zu kontaktieren. Es ist wichtig, dass wir intervenieren können, bevor Gewalt ausgeübt wird – oder erneut ausgeübt wird. Gewalt gegen Frauen muss uns als Gesellschaft etwas angehen. Deshalb ist es wichtig, dass alle genau hinschauen und handeln, wenn sie etwas beobachten. Doch bei der Kampagne «Stopp Gewalt gegen Frauen» geht es auch um weitere Botschaften. Dass ein Dämmerungseinbruch in eine Wohnung nicht okay ist, eine Straftat darstellt und die Polizei eingreifen soll, ist wohl gesellschaftlicher Konsens. So schlimm es ist, bei Gewalt gegen Frauen ist dies leider noch nicht der Fall.
Ein individuell weit schlimmeres Delikt wird weniger angezeigt?
Wiederkehr: Nicht nur das. Auch wenn die Polizei einschreitet und der Fall zu uns in die Staatsanwaltschaft kommt, erklären zwei Drittel der Opfer offiziell ihr Desinteresse. Das heisst, sie verzichten aktiv darauf, dass wir der Sache weiter nachgehen.
Dann sind Ihnen auch als Leitende Staatsanwältin die Hände gebunden!
Wiederkehr: Nein, Gott sei Dank nicht mehr. Seit Juli 2020 müssen wir eine Desinteresseerklärung nicht mehr annehmen und können weitere Schritte einleiten. Die Strafbehörden können ein Verfahren nun auch führen, wenn das Opfer dies gar nicht mehr wünscht. Die Staatsanwaltschaften berücksichtigen dabei die konkrete Lebenssituation eines Opfers.
Brunner: Im Verlauf der letzten Jahre hat sich in dieser Hinsicht viel getan. Mit der Änderung des Polizeigesetzes im Jahr 2013 wurde die Prävention deutlich als Kernaufgabe des polizeilichen Handelns verankert. Es verpflichtet uns, Hinweisen nachzugehen, um Straftaten zu verhindern.
Das führt uns zu einer anderen Frage: Die Kampagne wurde von der Kantonspolizei, der Staatsanwaltschaft und mehreren NGO-Opferberatungsstellen lanciert. Kommen Polizei und Staatsanwaltschaft nicht erst ins Spiel, wenn schon etwas passiert ist?
Brunner: Seit 2013 eben nicht mehr. Die Bedeutung der Prävention und die Einführung des Kantonalen Bedrohungsmanagements löste ein grosses Umdenken bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und auch den anderen Partnerorganisationen aus.
Inwiefern?
Brunner: Ich vergleiche das oft am Bild eines jagenden Raubtiers. Ich komme ja aus langjähriger Ermittlertätigkeit. Vormals war mein Aufgabenverständnis ähnlich einem Raubtier, das sich versteckt, beobachtet und zuschlägt, sobald der Zeitpunkt günstig erscheint. Im übertragenen Sinn: wenn die Beweislage gesichert erscheint. Bei der Prävention verhält es sich gegenteilig: Heute gehen wir offenkundig auf die Leute zu, von welchen mutmasslich eine Gefahr ausgeht, und versuchen auf diese Weise zu verhindern statt zu verfolgen.
Wie kann die Polizei ein Gewaltdelikt verhindern?
Brunner: Zum Beispiel eben mit einer sogenannten Gefährderansprache. Wenn uns zum Beispiel wiederholt Meldungen über Schreie aus einer Wohnung erreichen, dann werden wir aktiv. Wir rufen an, gehen vorbei und sprechen die Situation aktiv an. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir kontaktiert werden. Nur dann können wir aktiv werden. Letztes Jahr haben wir das über 200 Mal gemacht und wir sind uns sicher, dass dies einiges bewirkt. Ein Schuss vor den Bug eines potenziellen Täters.
Wiederkehr: Und ein starkes Zeichen in Richtung Opfer: Du bist nicht alleine. Gewalt ist nicht in Ordnung, wir tolerieren das nicht, wir helfen. Schnell und wirksam.
Welche Rolle spielt denn die Staatsanwaltschaft dabei? Kommen Sie normalerweise nicht noch später als die Polizei dazu?
Wiederkehr: Auch das hat sich stark geändert. Erstens vernetzen sich die staatlichen Stellen immer mehr. Nicht nur untereinander, auch mit den NGOs. Genau wie in diesem Fall.
Frauenhäuser, Wegweisung, Haft?
Wiederkehr: Nicht nur. Wir können beschuldigte Personen verpflichten, an einem Lernprogramm teilzunehmen. Dort sind sie gezwungen, sich mit ihrem Gewaltpotenzial auseinanderzusetzen. So soll das Opfer vor weiteren Übergriffen geschützt werden. Und wir zeigen Präsenz: Wir tolerieren keine Gewalt gegen Frauen.
Brunner: Das ist ein weiteres Zeichen der aktuellen Kampagne. Es ist nicht okay. Das ist leider nicht in der ganzen Gesellschaft so verankert. In gewissen Kulturen ist der Stellenwert der Frau nicht besonders hoch angesetzt. Die Frauen sind wirtschaftlich und sozial abhängig, isoliert. Sie fürchten um ihre Integration, ihren Aufenthaltsstatus, um ihre Kinder.
Diese Themen hatten Sie in der Kampagne «Stopp häusliche Gewalt» im Jahr 2017 schon einmal aufgegriffen. Was ist dieses Mal anders?
Brunner: Wir haben aus der ersten Kampagne viel positives Feedback erhalten. Deshalb haben wir alle entstandenen Kommunikationsmittel weiter nutzen können. Der aktuelle Auftrag des Regierungsrates ist dieses Mal enger formuliert und verlangt, dass wir uns auf Gewalt gegen Frauen konzentrieren. Das ist bei Weitem nicht die einzige Form von häuslicher Gewalt, doch sicher die häufigste. Neu ist auch, dass wir kommunikativ viel stärker auf die Beobachter fokussieren und viel stärker online kommunizieren.
Wiederkehr: Über den Beobachter erhoffen wir uns den stärksten Hebel. Wenn wir kontaktiert werden, können wir aktiv werden. Und die Online-Strategie ist angebracht, weil die meisten Opfer ihren wichtigsten Kontakt zur Aussenwelt über ihr Smartphone pflegen. Wir bieten alle Hilfe und Kontaktmöglichkeiten auch online an.
Für uns als Agentur war die Kampagne wie eine Weiterentwicklung der ersten Welle aus dem Jahr 2017 und der Kampagne gegen Telefonbetrug 2018. Dieses Mal ergänzt um modernste Tools aus dem Performance Marketing.
Brunner: Wir bleiben ja auch nicht stehen (lacht). Die Kampagne wird von unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin von Anfang an begleitet, mitkonzipiert und auf Wirksamkeit sowie Messbarkeit ausgelegt. Die meisten Parameter stehen allen im Projektteam in Echtzeit auf einem Online-Dashboard zur Verfügung.
Wiederkehr: Die Themen «Gewalt» im Allgemeinen und «Gewalt gegen Frauen» im Besonderen stehen sicher noch lange Jahre ganz oben auf unserer Agenda.
Herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei Ihren Anstrengungen gegen Gewalt!
Reinhard Brunner
Chef Präventionsabteilung Kantonspolizei Zürich
Seit 1985 bei der Kantonspolizei Zürich, ab 2010 als Leiter der Ermittlungsabteilung Gewaltkriminalität. Ende 2013 baute er die Präventionsabteilung auf, deren 70 Mitarbeitende er bis heute leitet.
Claudia Wiederkehr
Leitende Staatsanwältin Kanton Zürich
Ab 1996 Staatsanwältin und seit 2005 Leitung der Regionalen Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis mit etwa 40 Mitarbeitenden. Zudem ist sie federführend beim Thema «Häusliche Gewalt» für alle Staatsanwaltschaften des Kantons Zürich.
Präventionskampagne Kanton Zürich
Die Kampagne wird von der Kantonspolizei Zürich, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und verschiedenen Opferberatungsstellen des Kantons Zürich getragen. Ziel der Kampagne ist es nicht nur gefährdete Frauen zu ermutigen, sich an eine öffentliche Stelle zu wenden, sondern zusätzlich die Gesellschaft als Ganzes auf die Problematik aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren.
Zur Website der Kampagne: www.stopp-gewalt-gegen-frauen.ch
Zur Project Note der Kampagne: Stopp Gewalt gegen Frauen